Hier sind die 5 Anzeichen des Boreout-Syndroms am Arbeitsplatz, laut Psychologie
Du kennst das Gefühl: Montagmorgen, 8 Uhr, du sitzt am Schreibtisch. Bis zum Feierabend sind es noch acht Stunden. Deine Aufgaben für heute? Könntest du in anderthalb Stunden erledigen. Der Rest? Langeweile in Zeitlupe. Klingt nach einem Luxusproblem, oder? Falsch. Willkommen in der Hölle des Boreout-Syndroms – dem bösen Zwilling des Burnout, nur dass hier nicht zu viel Arbeit krank macht, sondern zu wenig.
Während alle über gestresste Manager und überlastete Pflegekräfte reden, leidet eine wachsende Gruppe von Menschen still vor sich hin: chronisch unterfordert, gelangweilt bis zur Verzweiflung, und völlig erschöpft vom Nichtstun. Das Verrückte daran? Die Symptome ähneln denen von Burnout – Erschöpfung, Depression, körperliche Beschwerden. Nur dass du eben nicht zu viel arbeitest, sondern zu wenig. Oder besser gesagt: die falsche Art von Arbeit machst.
Die Psychologie hat für dieses Phänomen einen Namen: Boreout-Syndrom. Und obwohl es keine offizielle klinische Diagnose ist, beschreiben Arbeitspsychologen seit Jahren die erschreckend realen Folgen. Menschen, die ihre Kompetenz nicht einsetzen können, deren Arbeit keinen Sinn ergibt, die acht Stunden am Tag so tun, als wären sie beschäftigt – diese Menschen werden krank. Nicht trotz ihrer entspannten Arbeitssituation, sondern genau deswegen.
Das widerspricht komplett unserer Intuition. Sollten wir nicht alle davon träumen, fürs Nichtstun bezahlt zu werden? Spoiler: Nein. Unser Gehirn ist nicht dafür gemacht, passiv herumzusitzen. Wir brauchen Herausforderungen, Sinn, das Gefühl, etwas zu bewirken. Ohne das verkümmern wir psychisch – egal wie gut das Gehalt ist.
Schauen wir uns die fünf wichtigsten Warnsignale an, die zeigen, dass du möglicherweise vom Boreout-Syndrom betroffen bist. Und ja, wenn du dich beim Lesen ertappt fühlst, bist du nicht allein.
1. Du ziehst deine Aufgaben künstlich in die Länge, um beschäftigt zu wirken
Sagen wir, du hast eine Aufgabe bekommen, die objektiv dreißig Minuten dauert. Eine E-Mail formulieren, eine Excel-Tabelle aktualisieren, ein kurzes Meeting vorbereiten. Aber wenn du das in dreißig Minuten erledigst, was machst du dann die restlichen sieben Stunden und dreißig Minuten?
Also beginnst du zu performen. Du schreibst die E-Mail, löschst sie wieder, schreibst sie neu. Du checkst zwischendurch Nachrichten, scrollst durch Social Media, organisierst zum dritten Mal diese Woche deinen Desktop. Du gehst extra langsam zur Kaffeemaschine, machst einen Umweg durchs Büro, unterhältst dich mit Kollegen über das Wetter. Alles, um die Zeit totzuschlagen. Alles, um nicht aufzufallen.
Arbeitspsychologen nennen das Task Stretching – das künstliche Ausdehnen von Aufgaben. Es ist eines der typischsten Symptome von Boreout. Es ist keine Faulheit. Es ist eine Überlebensstrategie in einem Arbeitsumfeld, das dich nicht wirklich braucht.
Das Problem dabei? Diese permanente Schauspielerei ist anstrengend. Wahnsinnig anstrengend. Du bist nicht entspannt, nur weil du wenig arbeitest. Du bist ständig angespannt, weil du aufpassen musst, dass niemand merkt, wie wenig du wirklich zu tun hast. Diese kognitive Dissonanz – der Widerspruch zwischen dem, was du tust und dem, was du vorgibst zu tun – frisst dich innerlich auf.
2. Du bist chronisch erschöpft, obwohl du objektiv fast nichts geleistet hast
Hier wird es richtig absurd: Du kommst nach Hause, lässt dich aufs Sofa fallen und bist komplett fertig. Dein Partner fragt, wie dein Tag war, und du kannst nicht mal antworten, weil du so ausgelaugt bist. Aber wenn du ehrlich bist, hast du heute objektiv gesehen fast nichts gemacht. Vielleicht eine Stunde echte Arbeit, der Rest war Zeitschinden.
Wie kann das sein? Wie kannst du erschöpft sein vom Nichtstun?
Die Antwort liegt in der Selbstbestimmungstheorie von Edward Deci und Richard Ryan. Diese beiden Psychologen haben herausgefunden, dass unsere Psyche drei Grundbedürfnisse hat: Kompetenz, also das Gefühl, etwas zu können und zu schaffen. Autonomie, also Selbstbestimmung. Und soziale Eingebundenheit, also das Gefühl, dazuzugehören.
Wenn diese Bedürfnisse dauerhaft frustriert werden, wird unser gesamtes System belastet. Wenn du Aufgaben erledigst, die weit unter deinem Level liegen – oder schlimmer noch, gar keine echten Aufgaben hast – fühlt sich dein Gehirn permanent unterfordert und sinnlos. Das kostet Energie. Paradoxerweise mehr Energie, als wenn du wirklich arbeiten würdest.
Viele Betroffene erleben eine Form der Erschöpfung, die sich von klassischer Überlastung unterscheidet, aber genauso real ist. Es ist, als würdest du mit angezogener Handbremse fahren – irgendwann überhitzt der Motor, auch wenn du nirgendwo hinkommst.
3. Du fühlst eine tiefe innere Leere und Sinnlosigkeit
Das ist vermutlich das schmerzhafteste Symptom von allen. Du fängst an, dir existenzielle Fragen zu stellen. Warum bin ich überhaupt hier? Macht meine Arbeit einen Unterschied? Verschwende ich gerade die besten Jahre meines Lebens mit absolut bedeutungslosem Kram?
Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie, hat nach seinen Erfahrungen im Konzentrationslager ein ganzes therapeutisches System darauf aufgebaut, dass Menschen Sinn brauchen, um zu überleben. Nicht Glück, nicht Komfort – Sinn. Der Verlust von Sinn kann zu schweren depressiven Zuständen führen.
Bei Boreout-Betroffenen ist es genau das: Du siehst keinen Sinn in dem, was du tust. Schlimmer noch, du kannst deine Fähigkeiten und dein Potenzial nicht einsetzen. Diese qualitative Unterforderung – also nicht nur zu wenig Arbeit, sondern die falsche Art von Arbeit – zerstört systematisch dein berufliches Selbstwertgefühl.
Psychologen betonen, dass dieses Sinnlosigkeitsgefühl kein vorübergehendes Stimmungstief ist. Es ist ein ernsthaftes psychologisches Warnsignal, das behandelt werden muss. Denn Burnout ist ein böses Wort, und seine weniger bekannte Schwester Boreout steht ihm in nichts nach.
4. Du ziehst dich sozial zurück und isolierst dich von Kollegen
Ein oft übersehenes Boreout-Symptom ist der schleichende Rückzug aus dem sozialen Leben am Arbeitsplatz. Du vermeidest die Kaffeeküche, lehnst Einladungen zum Teamlunch ab, hältst dich von Firmenevents fern. Warum?
Weil du dich schämst.
Unsere Arbeitsidentität ist eng mit unserem Selbstwert verknüpft. Eine der ersten Fragen bei neuen Bekanntschaften ist: Was machst du beruflich? Wenn du innerlich weißt, dass du nichts Wertvolles beiträgst, wird jedes Gespräch zur psychischen Belastung. Die Frage nach dem letzten Projekt wird zur Horrorvorstellung.
Studien zur Arbeitspsychologie zeigen, dass viele Boreout-Betroffene eine defensive Haltung entwickeln. Sie vermeiden nicht nur soziale Situationen, sondern lehnen auch zusätzliche Projekte ab – aus Angst, ihre Unterforderung könnte auffliegen. Das verstärkt die Isolation zusätzlich. Ein Teufelskreis.
Noch schlimmer: Während Burnout-Betroffene oft Mitgefühl und Verständnis bekommen, werden Boreout-Betroffene als Jammerer auf hohem Niveau abgetan. Diese soziale Stigmatisierung macht es unglaublich schwer, überhaupt über das Problem zu sprechen.
5. Du entwickelst körperliche Symptome ohne medizinische Erklärung
Hier wird es medizinisch interessant: Chronische Unterforderung kann zu echten, messbaren körperlichen Symptomen führen. Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Magenbeschwerden, Schlafstörungen, häufige Infekte. Die Liste ist erstaunlich ähnlich zu Burnout-Symptomen.
Viele Boreout-Betroffene landen zunächst beim Hausarzt, der keine organischen Ursachen findet. Das liegt daran, dass die Ursache nicht körperlich, sondern psychisch ist. Die Verbindung zwischen psychischer Belastung und körperlichen Symptomen ist wissenschaftlich gut dokumentiert.
Der Mechanismus dahinter: Chronischer Stress aktiviert dauerhaft unser sympathisches Nervensystem – das System, das für Fight-or-Flight-Reaktionen zuständig ist. Und ja, Unterforderung ist eine Form von Stress. Dein Körper interpretiert die permanente Frustration und Langeweile als Bedrohung. Die Stressreaktion wird aktiviert, aber es gibt keine Lösung. Du kannst weder kämpfen noch fliehen. Du sitzt fest.
Diese chronische Aktivierung ohne Auflösung erschöpft dein System und manifestiert sich in körperlichen Beschwerden. Dazu kommen oft Angstzustände und depressive Verstimmungen. Die ständige Frage „Warum fühle ich mich so schlecht, obwohl ich doch einen entspannten Job habe“ verstärkt Schuldgefühle und Selbstzweifel.
Warum macht zu wenig Arbeit überhaupt krank? Die kontraintuitive Psychologie dahinter
Jetzt kommt der wirklich verrückte Teil: Warum sollte zu wenig Arbeit ein Problem sein? Ist das nicht das Ziel? Möglichst viel Geld für möglichst wenig Aufwand?
Nein. Und zwar aus einem einfachen Grund: Unser Gehirn ist nicht dafür gemacht, passiv zu sein. Menschen sind keine Pflanzen, die man in die Sonne stellen und gießen kann. Wir brauchen Herausforderungen. Wir brauchen das Gefühl, etwas zu bewirken.
Die Psychologie nennt das den optimalen Aktivierungsgrad oder Flow-Zustand. Wenn die Anforderung genau zu unseren Fähigkeiten passt – nicht zu leicht, nicht zu schwer – befinden wir uns in einem idealen Zustand. Wir sind fokussiert, motiviert, zufrieden. Wenn die Anforderung weit unter unseren Fähigkeiten liegt, entsteht Langeweile. Wenn sie weit darüber liegt, entsteht Angst. Beides ist belastend.
Die Arbeitspsychologie unterscheidet zwischen zwei Arten von Unterforderung. Quantitative Unterforderung bedeutet zu wenig Arbeit – du hast objektiv zu wenig zu tun. Qualitative Unterforderung bedeutet die falsche Art von Arbeit – stupide, repetitive Aufgaben für jemanden, der komplexe Probleme lösen könnte. Die qualitative Unterforderung ist oft noch belastender. Es ist das Gefühl, dein Potenzial zu verschwenden, deine Ausbildung nicht nutzen zu können, für Dinge bezahlt zu werden, die ein einfacher Algorithmus besser machen könnte.
Was macht Boreout so gefährlich und unterschätzt?
Im Gegensatz zum Burnout gibt es für Boreout keine offizielle klinische Diagnose. Das ist ein riesiges Problem. Weil es keine offizielle Diagnose gibt, wird das Phänomen oft nicht ernst genommen – weder von Arbeitgebern noch von Betroffenen selbst.
Dabei ist die Symptomatik real und gut dokumentiert. Boreout erhält in den letzten Jahren zunehmend Aufmerksamkeit, besonders im Kontext moderner Arbeitsstrukturen. Hierarchische Unternehmen mit starren Strukturen, mangelnde Kommunikation, und eine Unternehmenskultur, die Anwesenheit über Produktivität stellt – all das sind ideale Bedingungen für Boreout.
Organisatorische Faktoren spielen eine riesige Rolle:
- Fehlende Karriereperspektiven und keine Möglichkeit zur Weiterentwicklung
- Das Gefühl, komplett austauschbar zu sein
- Umstrukturierungen, die hochqualifizierte Menschen in unterdimensionierte Positionen drängen
- Politische Dynamiken oder einfach schlechtes Management
Besonders in großen Konzernen kann es passieren, dass Menschen systematisch unterfordert werden, obwohl sie das Potenzial für deutlich anspruchsvollere Aufgaben hätten.
Was kannst du tun, wenn du diese Anzeichen bei dir erkennst?
Zuerst das Wichtigste: Nimm deine Symptome ernst. Nur weil du nicht überarbeitet bist, heißt das nicht, dass deine Belastung nicht real ist. Psychologische Fachstellen behandeln Boreout-Symptome ähnlich wie andere stressbedingte Störungen.
Sprich das Problem an. Das ist schwer, weil es sich wie Jammern auf hohem Niveau anfühlt. Aber es ist kein Luxusproblem. Deine psychische Gesundheit steht auf dem Spiel. Rede mit deinem Vorgesetzten, der Personalabteilung, oder einem Therapeuten. Oft können konkrete Veränderungen helfen:
- Andere Aufgaben übernehmen, die besser zu deinen Fähigkeiten passen
- Neue Projekte initiieren oder dich dafür anbieten
- Weiterbildungen nutzen, um neue Kompetenzen zu entwickeln
- In letzter Konsequenz einen Jobwechsel in Erwägung ziehen
Gleichzeitig ist es wichtig, eine Identität außerhalb deiner Arbeit zu entwickeln. Hobbys, ehrenamtliches Engagement, kreative Projekte – Bereiche, in denen du deine Kompetenzen einsetzen und Sinn erfahren kannst. Das kompensiert nicht dauerhaft eine unbefriedigende Arbeitssituation, kann aber kurzfristig stabilisieren und dir helfen, bis du eine bessere Lösung findest.
Die größere Frage: Was sagt Boreout über unsere Arbeitskultur?
Vielleicht ist das Boreout-Syndrom auch ein Symptom einer größeren kulturellen Krise. Der Anthropologe David Graeber prägte den Begriff Bullshit Jobs für Positionen, bei denen selbst die Stelleninhaber nicht erklären können, warum ihre Arbeit existiert. Jobs, die nur existieren, um Hierarchien aufrechtzuerhalten, um in Organigrammen gut auszusehen, oder weil niemand den Mut hat, sie abzuschaffen.
Wir leben in einer Zeit, in der viele traditionelle Jobs durch Automatisierung überflüssig werden, während gleichzeitig neue, oft sinnentleerte Positionen entstehen. Die Arbeitspsychologie zeigt deutlich: Wir brauchen eine neue Perspektive auf Produktivität und Sinnhaftigkeit. Es geht nicht darum, Menschen acht Stunden am Tag zu beschäftigen. Es geht darum, Arbeit zu gestalten, die tatsächlich gebraucht wird und in der Menschen ihre Fähigkeiten einbringen können.
Das Boreout-Syndrom ist ein Weckruf. Nicht nur Überforderung macht uns krank. Auch das Gefühl, nicht gebraucht zu werden, nichts Wertvolles beizutragen und seine Zeit zu verschwenden, zerstört unsere psychische Gesundheit. Als Gesellschaft, als Arbeitgeber, als Betroffene sollten wir das endlich ernst nehmen.
Denn am Ende geht es um mehr als einen Job. Es geht um die Frage, wie wir als Menschen Bedeutung, Würde und Erfüllung finden. Und manchmal bedeutet das paradoxerweise: Wir brauchen die richtige Art von Arbeit, um gesund zu bleiben. Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig. Und schon gar nicht die falsche.
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